1920 geboren in Frankfurt am Main als Tochter polnisch-jüdischer Einwanderer in ein religiöses Elternhaus. Der Vater Elimelech Max Beer war Thora-Schreiber. Recha, die jüngste Tochter, wird wie ihre vier Schwestern orthodox erzogen
Kaufm. Lehrling bei Textilfirma, Arisierung der Firma, danach arbeitslos
1937 Ein Versuch nach Palästina auszuwandern scheitert
1938 Die Gestapo versucht die Familie nach Polen zu deportieren, die Einreise wird verweigert
1939 kurz vor Ausbruch des Krieges Emigration nach England, Fabriksarbeiterin in London
1942 Heirat mit dem aus Wien stammenden David Kohn in London
1944 Geburt ihrer Tochter Vera
1946 Übersiedlung nach Wien
1947 Geburt ihrer Tochter Ruth
1950 Geburt ihrer Tochter Grete
1956 bis 1959 Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Wien, Kunsterziehung bei Prof. Matejka-Felden
1985 Gedemütigte und Verfolgte, Ausstellung Kleine Galerie
1997 „Zeichnungen, Erinnerungen und Erzählungen“, Memoiren
2002 Ausstellung im psychosozialen Zentrum Esra
2007 Nachtschatten, Ausstellung Galerie am Park, Katalog
2011 Schenkung „Der Lastenträger“ (1965, Gouache auf Papier) an Yad Vashem. Das Bild wird ein Jahr lang im Exhibition Pavillon in der Ausstellung „Virtues of Memory“ gezeigt
2020 Anlässlich des 100. GeburtstagesWerksverzeichnis von Tochter Ruth Bachmayer und Zvi Bernstein
August 2022 Ausstellung beim Kammermusikfestival Wien
12.5.-13.5.2023 Teil der Sammelausstellung „Wien expressiv“ im Kunstsalon der Galerie Lang
30.9.-18.12.2023 „Kunst zum Überleben“ – Ausstellung im Kunstraum Valentinum in Braunau/OÖ im Rahmen der Zeitgeschichte-Tage. Fotos gibt es hier
21.3.-22.5.2024 „Über/s/leben“ – Ausstellung im Theater Nestroyhof Hamakom. Fotos der Eröffnung gibt es hier

Oberösterreich Heute, ORF, 29.9.23, anlässlich der Vernissage im Kunstraum Valentinum

Stefan Daubrawa - Meine Oma

Es war eine freudige Nachricht. Rund um das Jahr 2008, da war meine Oma 88 Jahre alt, bin ich freudenstrahlend zu ihr gegangen. Ich war total stolz. Soeben hatte ein guter Freund von mir gesagt, dass er ganze fünf Bilder von ihr kaufen will. Eine gute Nachricht. Da war ich mir sicher.

Ein, zwei Jahre davor hatte meine Oma ihre erste große Einzel-Ausstellung in einer Galerie in Wien gehabt. Und die war ein voller Erfolg! Ihre Bilder haben sich verkauft wie die warmen Semmeln. Bei der Vernissage war sie zwar etwas überfordert, aber letztlich hat sie den Rummel und die Anerkennung genossen. Sie war sichtlich glücklich und stolz. Ein, zwei Jahre später also die freudige Nachricht: Fünf Bilder! Auf einen Schlag verkauft! Es gab ernsthaftes Interesse an ihrer Kunst. Ein weiterer Schritt zum Weltruhm. So habe ich gedacht.

Ich habe mit einer ähnlichen Reaktion gerechnet wie kurz zuvor bei der Ausstellung: Glück, Stolz und etwas Lob für mich, und das heißt etwas in meiner Familie. Doch ich habe mich geirrt. Ihre Reaktion war anders als von mir erwartet. Sie hat mich verkniffen angeschaut und gefragt, wer denn das sei, der da die Bilder kaufen will. Ob ich den gut kennen würde. Noch habe ich den Braten nicht gerochen.

Nach kurzem Herum-Gedruckse wird klar: Sie will nicht verkaufen, sie kennt den ja nicht. Alles reden von mir hilft nichts. Dass ich für meinen Freund die Hände ins Feuer lege, ändert nichts an ihrem Nein. Nach langem Hin und Her und viel überreden von mir, hat sie ihm dann doch ein Bild verkauft, ein einziges, recht kleines. Und das eben nicht ganz freiwillig.

Diese Episode ist bezeichnet für meine Großmutter: Ihre Bilder sollten nur ja nicht in falsche Hände kommen. Das war ihr wichtiger als künstlerische Anerkennung und Ruhm. Wer hatte nun diese falschen Hände? So gut wie alle. Überall waren potenzielle Feinde: Echte Antisemiten / Antisemiten, die noch nicht wussten, dass sie welche waren / Antisemiten, die ihren Antisemitismus hinter Kritik an ihrem Israel verstecken / christliche Antisemiten / Antisemiten, die es nur nicht zeigen wollten. Sie war umgeben von Feindesland. Ich habe meine Großmutter also komplett falsch eingeschätzt. Die Ausstellung in der Galerie, bei der vor allem Bekannte und Freunde der Familie waren, war eine der wenigen Enklaven in diesem Feindesland, ein sicherer Hafen, keine Fluchtroute. Mit Ausstellungsende hat sie ihre Wirklichkeit – die Wirklichkeit – wieder eingeholt.

In ihrer früheren Wohnung hatte meine Großmutter ein großes Zimmer, das sie als Atelier verwendet hat. Ich war gerne dort. Ich mag seit damals den Geruch der Farben und von Terpentin. Auf einem großen Tisch, auf Sesseln zum Teil auch am Boden stapelten sich Skizzen, fertige Bilder, groß, klein, mit Eselsohren, gar nicht so selten beidseitig bemalt, da gerade kein frisches Papier da war. Kleine Federzeichnungen, Aquarelle, große Ölbilder. Ein heilloses Chaos. Eine Staffelei war auch dort und wenige Skulpturen. Eines hatten die Bilder gemeinsam, unabhängig von der Technik: Fast immer zeigten sie ängstliche, erschrockene Menschen, oft Frauen und Kinder, seltener Männer, so gut wie immer mit weit aufgerissenen Augen und kleinen Pupillen. Es war auf eine faszinierende Art bedrückend. Nach Fertigstellung waren meiner Oma die Bilder weitgehend egal. Ihre Bilder hat sie zwar noch signiert, das hat sie wahrscheinlich auf der Akademie so gelernt, aber bei fast allen älteren fehlt das Datum, viele haben Eselsohren oder Einrisse. Wenn einem aus der Familie eines gefallen hat, hat sie es – in der Regel – recht widerstandslos hergegeben. Aber es musste eben schon Familie sein.

Meine Oma hat sich ihr Unwohlsein in Wien, die schlechten Erinnerungen, ihre Ängste rausgemalt. Und damit war es dann erledigt. Bis zum nächsten Bild. Worüber sie nicht sprechen konnte, darüber musste sie malen, und sie hat nicht gerne über die Vergangenheit gesprochen, dafür haben wir jetzt immer noch mehr als 1.200 Bilder von ihr. Kurz vor der Jahrtausendwende hat meine Oma eine Autobiographie geschrieben. Darin schreibt sie, dass sie versucht hat, so zu leben, wie andere Menschen und das, was passierte, aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Es gelang ihr nicht.

Nach dem verunglückten Verkaufsversuch an meinen Freund haben wir und ich die Bemühungen, sie bekannter zu machen, eingestellt. Man kann sie ja nicht zwingen. Bis rund um ihren 100. Geburtstag. Warum also jetzt? Ignorieren wir oder ich ihre Wünsche, jetzt, wo sie sich quasi nicht mehr wehren kann? Ich glaube nicht. Denn wie es auch hätte sein können, wie sie auch hätte sein können, hat sich da gezeigt. Mit zunehmendem Alter ist sie vergesslicher geworden, und das hat ihr gutgetan. Sie wurde – auch optisch – ausgeglichener, fröhlicher, in einer positiven Art kindlicher und zufriedener. Sie hat schlicht vergessen, dass sie sich im Feindesland aufhält. Man sieht das recht gut auf einem Foto, dass auch auf der Einladung ist. Es zeigt sie an ihrem 100. Geburtstag. Auf einmal hatte sie da eine Ausstrahlung, wie die nette Oma aus den Kinderbüchern von Christine Nöstlinger. Nur leider ohne dem Wiener Slang. Und das hat eigentlich viel besser zu ihr gepasst. Dieses kurze Zeitfenster hat sich – altersbedingt – wieder geschlossen. Im Juni haben wir ihren 103. Geburtstag gefeiert. Aber diese paar Jahre haben gezeigt, wie sie gewesen wäre, wenn… Und diese Oma hätte – da bin ich mir recht sicher – die aktuellen Bemühungen und auch diese Ausstellung gutgeheißen.

Aber warum ausgerechnet hier – in Braunau? Man muss den Radius größer fassen. Eigentlich müsste es heißen. Warum ausgerechnet in Österreich? Es gibt ja wirklich wenig Orte in diesem Land, die unbefleckt sind. Vor mehr als dreißig Jahren hat meine Familie ein Haus im Südburgenland gekauft, eine alte Mühle., wunderschön, mit riesigem Garten. Jahre später ist der Ort österreichweit bekannt geworden. Elfride Jelinek hat sogar ein Stück darüber geschrieben. Es heißt Rechnitz. In fast jedem Ort am Land gibt es höchst ungustiösen Kriegerdenkmäler. Noch immer. Beim Lueger-Platz in Wien schafft man bis heute keine Neubenennung. Es ist halt Österreich. Es ist hier, wie fast überall: Kratzt man an der Oberfläche, kommt ungustiöses zum Vorschein. Und letztlich gilt wohl ähnliches für viele andere Länder in Europa, in der Welt.

Braunau hat es insofern besser, weil es – und das weiß ich, weil ich der Familie Simböck schon lange zwar lose aber doch familiär verbunden bin – der Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (aus naheliegenden Gründen) nicht ganz so leicht entkommen konnte, wie der Rest. Aber das ist – zugegeben – mein Blick von außen. Ich hoffe, da liege ich richtig. Leider gibt es aber auch hier manchmal einen unangemessenen Umgang mit der Vergangenheit, wie die – in meinen Augen – äußerst unsensible Nach-Nutzung des Hitler-Geburtshauses. Eine Ausbildungsstätte für Polizisten? Ich bin mir sicher, man hätte auch etwas Passenderes, etwas Angemesseneres finden können.

Aber hier gibt es zumindest Veranstaltungen, wie die Zeitgeschichte-Tage. Oder den Gedenkstein vor dem Hitler-Haus. Auch allzu lange keine Selbstverständlichkeit, aber immerhin. Siehe Rechnitz, wo der erste Film, der die Ermordung an den jüdischen Zwangsarbeitern zu Kriegsende ans Licht der Öffentlichkeit holte, zu Recht „Totschweigen“ geheißen hat. Er ist erst 1994 gemacht worden. Ich glaube, dass es deshalb eigentlich wenig passendere Orte als diesen hier für die Bilder meiner Großmutter gibt. Und mit den Zeitgeschichte-Tagen wohl auch kein besseres Umfeld. Und ich bin zuversichtlich, dass hier nicht – im Sinne meiner Großmutter – die „Falschen“ sind. Einhundertprozentige Sicherheit gibt es bei diesem Punkt aber leider nicht. Und in einem bin ich mir ganz sicher: Am blödesten wäre es, wenn die vielen Bilder meiner Oma in irgendeinem Keller oder Archiv vor sich hin verstauben würden.

Die Initiative zu dieser Ausstellung ist von meiner – am ehesten trifft es – Quasi-Cousine Xandra (Vierlinger) ausgegangen, wofür ich ihr wirklich unendlich dankbar bin. Ich hatte anfangs aus organisatorischen Gründen Zweifel, aber sie hat mich überzeugt. Und vielen Dank auch an Peter Stollberger, der als Kurator die Ausstellung betreut hat und für die wunderbare Gestaltung des Raums verantwortlich zeichnet!

Eröffnungsrede von Stefan Daubrawa, Enkel von Recha Kohn, „Kunst zum Überleben“
Braunau am Inn, September 2023

Dieter Schrage - Kunst mit moralischem Anspruch

Zu den Gouachen von Recha Kohn

„Kunst kann die Menschen nicht ändern, aber sie kann einen Druck auf sie ausüben, das Leben mit anderen Augen anzusehen, das eigene moralische Problem zu erkennen.“

Arthur Miller -1956

Recha Kohn ist als Malerin und Grafikerin eine Spätberufene – sie absolvierte 1956 bis 1959 ihr Kunststudium als Mutter von drei schulpflichtigen Kindern – und sie ist heute als fast 87-jährige noch voller künstlerischer Schaffenskraft. Besonders ihre in den vergangenen Jahren entstandenen Gouachen sind für mich – und das gilt auch unabhängig von dem Lebensalter der Künstlerin – von einer erstaunlichen expressiven Qualität. Es sind auf 107 x 83 cm großen Papieren in kräftigen Farbkontrasten gemalte Bilder, in ihrer Darstellung zwischen Albtraum über das in der Vergangenheit Erlebte und Hoffnung für die Zukunft. Dieses Albtraumhafte wird etwa in starken teilweise roten Bildern voller Feuer und entsetzt weichenden Frau oder in der „Vertriebenen“ deutlich. Manche Gouachen sind heftige Anklagen gegen Nazitum, Faschismus, Militär und Klerus. Doch es gibt auch Bilder mit dem wärmenden Feuer oder dem Feuer als Licht der Hoffnung. Und in manchen Bildern sind Engel zu sehen. Letztlich ist jedes gut gemalte Bild, auch wenn es mit dem Brudermord von Kain und Abel den ersten wirklichen Sündenfall der Menschheit (nicht die sentimentale Geschichte von Adam und Eva) zeigt, voller Hoffnung.

„Not der Mitmenschen wahrnehmen“

Recha Kohn – in Frankfurt a. M. als Kind polnisch-jüdischer Einwanderer geboren, der Deportation durch die Nazis nach Polen entkommen, nach England geflohen und nach 1945 in Wien nie ganz heimisch geworden – hofft, wie sie in ihren Ausführungen in diesem Katalog erklärt, mit ihren Gouachen, Aquarellen und Federzeichnungen „die Menschen so zu bewegen, dass sie die Not ihrer Menschen wahrnehmen und daran teilnehmen, anstatt sich mit ihrer eigenen beschaulichen Sorglosigkeit zufrieden zu geben„. Für Recha Kohn, die zeitlebens zwar nicht direkt parteipolitisch, aber immer doch politisch Anteil nehmend war und ist, sind die Kunst und ihre Botschaft „Pflicht und Lebensaufgabe„, und sie malt und zeichnet mit einem hohen moralischen Anspruch. Das heißt, ihre Bilder sind gemalte Plädoyers für die Einhaltung ethisch-sittlicher Normen des Handelns bzw. heftige Anklagen gegen ihre Verstöße. Die Frage von Kunst und Moral bzw. Ethik (als Philosophie der Moral) ist eine in der Kunst in Theorie und Praxis viel diskutierte, mit den zwiespältigsten Antworten versehene Frage. Beispielsweise grundlegend behandelt in Friedrich Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung der Menschen“. Doch Recha Kohns Sache ist nicht der abgehobene ästhetisch-moralische Diskurs, sondern die konkrete Umsetzung ethischer Ansprüche in ihrer Kunst. Für ihre Malerei gilt, was Wieland Schmied 1990 in „Kunst – was ist das?“ betont: „Das soll nicht heißen, dass Kunst und Moral sich völlig voneinander trennen lassen. Ihr Zusammenhang ist nur unendlich diffiziler. Er hat jedenfalls nicht mit dem Lebenswandel des Künstlers zu tun. Die Moral der Kunst spricht sich im Kunstwerk aus, nicht in der Person des Künstlers. Moral ist zuallererst eine Frage der Qualität. Es lässt sich kein vollkommenes Werk denken, das nicht von künstlereischer Moral getragen wird. Oder anders gesagt: die Humanität eines Kunstwerks – und damit seine Größe – ist eine Sache der künstlerischen Form, der ästhetischen Gestalt.

Aber wir können uns die Sache auch jenseits von Friedrich Schiller, Wieland Schmied & Co viel einfacher und innerlich ertragreicher machen und uns die Bilder von Recha Kohn einfach in Ruhe anschauen.

Dieter Schrage, Kulturwissenschafter, Eröffnungsrede Galerie am Park
Wien, März 2007

Danielle Spera - Malerei ist für mich eine Waffe

Meine Bekanntschaft mit Recha Kohn verdanke ich meinem lieben Kollegen Stefan Daubrawa – dem Enkel von Frau Kohn. Er war es auch, der mich mit ihrem Werk vertraut gemacht hat. Von Anfang an war ich von den Arbeiten Recha Kohns beeindruckt und wollte mehr über sie wissen. Glücklicherweise hat Frau Kohn ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben und so konnte ich ein spannendes, ereignisreiches Leben nachvollziehen.

Recha Kohn (geb. Beer) wurde als Kind polnischer Einwanderer in Frankfurt am Main als Tochter eines Thora-Schreibers und jüngstes Kind von fünf Mädchen geboren. Sie wurde orthodox erzogen und 1938 zusammen mit ihrer Familie von den Nazis nach Polen deportiert. Kurz vor Ausbruch des Krieges gelang die Flucht nach England. In London heiratete sie später den aus Wien stammenden David Kohn, mit dem sie 1946 nach Österreich ging. Sie ist Mutter dreier Töchter. Von 1956 bis 1959 studierte sie an der Akademie der Bildenden Künste bei Prof. Matejka-Felden Kunsterziehung.

Zu malen, bedeutet für Recha Kohn, Erlebnisse zu verarbeiten. Ihre Objekte sind Menschen, in großer Mehrzahl Frauen. Auch deshalb, weil Frauen ihr Leben geprägt hatten: die enge Bindung zur Mutter, vier Schwestern, drei Töchter. Ihr Leitsatz ist in all ihren bemerkenswerten Bildern zu entdecken: „Malerei ist für mich eine Waffe, mit der man bekämpfen kann, was man als Unrecht ansieht.“ In diesem Sinn kann man sich der Leidenschaft hingeben, die in all ihren Bildern zu finden ist. Ich bin dankbar, Recha Kohn kennen gelernt zu haben.

Danielle Spera, Redakteurin, Moderatorin „Zeit im Bild“/ ORF; Direktorin des Jüdischen Museums Wien, Vorwort Katalog

Wien, März 2007

Leopold Spira - Gedemütigte und Verfolgte

Federzeichnungen

Recha Kohn, 1920 in Frankfurt am Main geboren, entstammt einer jüdisch religiösen Familie. Die Religion unterschied die Familie von ihrer Umwelt, aber Juden hatten in Deutschland seit mehr als einem Jahrtausend gelebt, oft verfolgt, waren aber dann doch in das staatliche, kulturelle und wirtschaftliche Leben integriert.

Viele von ihnen fühlten sich als gute Deutsche, ja als deutsche Nationalisten. Und auch weiter im Osten, jenseits der Grenzen des Deutschen Reichs, war die deutsche Kultur der geistige Wegbereiter der Emanzipation, besuchten jüdische Kinder, wenn ihnen das möglich war, deutsche Schulen. Es war kein ungetrübtes Verhältnis, aber die deutschen Juden waren überzeugt, dass das Zeitalter der Pogrome und Vertreibungen, der Zwangstaufen und Ritualmord-Anklagen im Deutschen Reich für immer vorbei sei. Und vor den Pogromen und der wirtschaftlichen Ausweglosigkeit im zaristischen Russland flohen viele Juden nach Deutschland, das Reich der klassischen Kultur, des wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Aufschwungs und der Liberalität.

Als Hitler 1933 an die Macht kam, klammerten sich zunächst viele deutsche Juden an die Hoffnung, es werde nicht so heiß gegessen werden, wie gekocht wurde, die bedrohliche Situation, deren Tragweite kaum jemand ahnte, werde wieder abklingen. So blieben viele deutsche Juden, wo sie waren und nahmen Einschränkungen und Demütigungen auf sich. Auch die Familie von Recha Kohn blieb in Frankfurt, wo sie 1939 verhaftet und nach Polen deportiert wurde. Für die meisten Deportierten war das ein hinausgeschobenes Todesurteil. Recha aber gelang die Flucht nach England. Mit ihrem österreichischen Mann kam sie nach dem Krieg nach Wien.

Auch noch nach Jahrzehnten war das, was sie in Deutschland und Polen erlebt und gesehen hatte, in Recha Kohn noch lebendig und bedrückend. Mit dem Zeichenstift gab sie dieser nicht überwindbaren Betroffenheit und Verletztheit Ausdruck. Es sind vor allem Köpfe alter Frauen, in deren Gesicht Recha Kohn darstellt, was sie innerlich bewegt und was sie anderen erklären will. Es sind verhungerte, verhärmte Gesichter, die von weit geöffneten, gerade vor sich hinblickenden Augen beherrscht werden.

In diesen Augen erkennt man nicht nur die psychische und seelische Not, die Todesangst um sich selbst und die Familienangehörigen, sondern auch das verständnislose Entsetzen darüber, wieso das alles passieren konnte. Es sind Augen von Opfern, die sich keiner Schuld bewusst sind und den kalten Hass, der sie mit dem Tode bedroht, nicht begreifen können. Und gerade dieses Nichtbegreifen der Opfer ist die stärkste Anklage.

Eröffnungsrede von Leopold Spira, Ausstellung „Kleine Galerie“
Wien, November 1985

Recha Kohn - Auszug aus Memoiren

Mein Vater entstammte einer Familie von Thora-Schreibern, ein Beruf, der sich seit vielen Generationen von den Vätern auf die Söhne vererbte. So war auch der Vater meines Vaters Thora-Schreiber gewesen, sowie dessen Vater auch. Vielleicht reichte das erste Glied dieser Kette in jene ferne Zeit zurück, in der die Bibel niedergeschrieben wurde, die vorher nun mündliche Überlieferung war.

Ich sah gerne zu, wenn er an seinem Arbeitstisch saß, vor sich eine Pergament-Rolle und in seiner Hand den Gänsekiel, den er ab und zu in ein Tintenfass eintauchte, sodass in wundervoller Exaktheit und Harmonie mit eckigen, hebräischen Buchstaben geschrieben der Text der fünf Bücher Moses, der Bibel, der Thora entstand. Mein Vater hatte eine berühmt schöne Schrift und von fern her kamen Juden, um ihn mit religiösen Arbeiten zu betrauen. Jedoch brachte ihm sein frommes Handwerk außer himmlischen Segen keinen entsprechenden irdischen ein. Laut dem Spruch der Weisen, dass nur derjenige ein reicher Mann sei, der mit seinem Anteil zufrieden sei, strebte mein Vater auch niemals nach größerem Reichtum, sondern er trug seine Armut mit Gelassenheit und Würde, wenn auch sein Anteil ein gar spärlicher war.

Recha Kohn
Baden bei Wien, 1997

Recha Kohn - Kunst zum Überleben

Das praktische Studium der Malerei verlieh mir eine Handhabe zur Ausführung von künstlerischen Ideen, die meiner persönlichen Auffassung von Kunst aufgrund meiner Lebenserfahrung entsprachen.

Im Mittelpunkt meiner malerischen Darstellung steht der leidende Mensch. Die Darstellung des Märtyrers unserer heutigen modernen Zeit beruht noch immer auf den Leiden einiger Menschen aus längst vergangenen Jahrhunderten. Die jetzige Zeit hat mit ihren modernen Mitteln die Möglichkeiten der Verfolgung und Auslöschung unliebsamer Mitmenschen tausendfach vervielfacht. Dem Unglück der Opfer von Verfolgung und Tötung in meiner Bildern Ausdruck zu verleihen, betrachte ich als meine Pflicht und Lebensaufgabe.

So sehr ich die Werke anderer Maler, vor allem die der alten Meister bewunderte, versuchte ich doch einen eigenen Stil, entsprechend der veränderten Zeit und meiner eigenen Erfahrungen zu entwickeln. Dieser sollte auf keinen Leiden der Vergangenheit beruhen, sondern auf der eigenen Kraft zur Bewältigung der Lebensumstände. Dieser Malweise bin ich seitdem treu geblieben und hoffe damit die Menschen so zu bewegen, dass sie die Not ihrer Mitmenschen wahrnehmen und daran teilnehmen, anstatt sich mit ihrer eigenen beschaulichen Sorglosigkeit zufrieden zu geben.

Recha Kohn

Wien, November 2006

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Layout & Impressum: Stefan Daubrawa